W. Weilenmann
Dr. med. dent.
Walter Weilenmann
eidg. dipl. Zahnarzt
dipl. Natw. ETH

Mitglied SSO, SSGS
und SSO-Zürich.

Frakturen bei Komposit

Kompositfüllungen brechen selten wegen Überlastung und meistens wegen Ermüdung:
  1. Überlastungen sind einmalige, sehr hohe Kräfte (Gewaltfraktur).
  2. Ermüdung entsteht bei einer hohen Zahl von normalen Belastungen.
  3. Das Komposit ist so fest mit den Höckern verklebt, dass sie nicht abbrechen.
  4. Aber sie drücken bei Formfehlern den Zahn schief und spreizen das Komposit.
  5. Ersteres verursacht Kaltempfindlichkeiten und Kauschmerzen.
  6. Das Zweite führt zu Haarrissen und schliesslich zu Frakturen im Komposit.
Es gibt drei Formfehler: die tiefe Kaugrube, die gekerbte Zentrik sowie breitflächige Kontakte ohne Abflussrillen. Sie werden nur schädlich, wenn ein Gegenzahn mit seiner Höckerspitze in die Grube trifft. Grosse Kaukräfte entstehen durch Knirschen, Rohkost, Trockenfleisch, usw. Die Formfehler bestehen manchmal von Anfang an, oder sie entstehen nach einigen Jahren wegen einem keramischen Gegenzahn, oder sie bilden sich nach 20-30 Jahren durch die natürliche Abnutzung.

Haarriss
Karies
Pulpa
Komposit
Karies und normale Pulpa
unbemerkter kleiner Haarriss
wegen Höckerschwäche
Neues Komposit mit Formfehlern
(90°-Winkel, scharfe Kerbe)
Zahn bald kaltempfindlich
nach 5-10 Jahren:
Fraktur wegen Knirschen
auf langen Schlifffacetten
Motiv:

Formfehler, die zu Frakturen führen, sind noch kein Thema in der Zahnmedizin.

Interessant ist der Unterschied zwischen Amalgam und Komposit. Bei Amalgam bricht immer der Höcker, bei Komposit die Füllung. Das ist wegen der schwachen Kohäsion und starken Adhäsion des Komposits am Zahn

Vielleicht kann ich mit dieser Seite eine Diskussion über Formfehler bewirken.

Inhalt:


Beispiel einer Kompositfraktur

10Zentralfraktur7761.jpg

Zentralfraktur

58-jährige Patientin (28.06.2019 / 7761), Zahn 7-

links: Zentralfraktur im Komposit = Sprödbruch.
Beachte: Bei Amalgam verläuft der Bruch immer neben der Füllung.

Mitte: Drei Formfehler: tiefe Kaugrube, gekerbte Zentrik, fehlende Abflussrille.

Formfehler anzeigen

rechts: Gegenzahn 7+: Langer Höcker, keine Abflussrillen, zu hartes Material: CEREC®.

links: Die Fraktur geht bis in die Wurzelkanäle.

Mitte: Die neue Kompositfüllung mit dem Verstärkungsdraht.

rechts: Die fertige Füllung mit flacher Kaugrube und durchschimmerndem Verstärkungsdraht.


Wirkungsradius des Drahtes

21Wirkungsradius533.jpg
Zone neben dem Wirkungsradius
Hier brach das Komposit. Der Spalt wurde durch Speiseresten aufgedrückt und konnte mit der Sonde gut gedehnt werden.
→ Hier braucht es auch eine Klammer!
Zone im Wirkungsradius
Hier blieb der Spalt schmal, hielt die Klammer der Dehnspannung stand und war der Spalt mit der Sonde nicht dehnbar.

Lehren aus einem Misserfolg

55-jähriger Patient (12.06.2019 / 533), Zahn +6

Diese Reparatur brach nach 2 Jahren. Als der Patient kam war der Spalt beim Draht kaum 1 mm breit, oben im Bild jedoch durch Speisereste auf 2 mm gedehnt. Die Foto zeigt den mit einem Bohrer erweiterten Spalt. Es sind Speisereste in der Tiefe sichtbar. Das Innere des Zahnes wurde in wenigen Monaten durch Karies mehrere mm weit aufgeweicht. Offenbar schreitet in so einem Spalt die Karies noch schneller fort als früher (vor den fluoridierten Zahnpasten) bei den ersten Molaren der 6-jährigen Kinder.


Kauen und Knirschen

31KauenKnirschen7761.jpg
Kauen vs. Knirschen

Kauen
mit
30 N
Zugspannung
= 30 N bei 90°-Höckerwinkeln
Knirschen
mit
300 N
Scherspannung

Drahtverstärkung Permachrome®
oben: Draht, etwa 8 mm breit
unten: blau: Draht   grün: Komposit

Kauen

Beim Kauen entsteht eine Kraft, die senkrecht auf die Seitenzähne wirkt.

Haben die Seitenzähne Höcker, so werden letztere bei zäher Nahrung auseinander gepresst. Dadurch entsteht eine Zugkraft, die den Zahn oder die Füllung spalten kann.
Auf flachen Seitenzähnen entsteht beim Kauen keine Spaltkraft.

Knirschen

Beim Knirschen verschiebt man die Zähne horizontal gegeneinander.
Die Knirschkraft hat eine senkrechte und horizontale Komponente je nach Höckerwinkel α. Knirschen

Fhoriz = sin(α) ⋅ FKnirsch
Sinus(10 Grad) = 0.17 Fvertikal = cos(α) ⋅ FKnirsch
Cosinus(10 Grad) = 0.98


Matrix und Faser

Matrix: Komposit

Die Matrix der Komposits besteht hauptsächlich aus Bis-GMA (Bisphenol-A-Glycidyldimethacrylat).
Summenformel: C29H36O8
Bis-GMA

↙Methacrylat (reaktiv)

Faser: Rostfreier Edelstahl

Die Rostfreiheit entsteht durch das Chrom.
Zusammensetzung:
Cr [%]NiMnSiC P S NFeE-Modul [GPa]
Betonstahl16–18 6–8 21 Rest 200-210
V2A-Stahl 208 0.20.1 71 180
Edelstahl 18/10 1810 72 (Stahl) 200
304 SS 17.5-19.58-10.521 0.07 0.045 0.015 0.1 Rest 114-190

Permachrome ist ein magnetischer 304 SS-Stahl (="ferritisch") für orthodontische Drähte von 3M Unitek:
 REF 300-171; 016 x 022; E-Modul=186 GPa; Zugfestigkeit=1896-2103 MPa; Dehnung 0.2%=853 MPa

Faser: E-Glas (="elektrisch")

Zusammensetzung: 52–56% Si02, 16-25% Ca0, 12-16% AL203, 5-10% B203, 0-5% Mg0
Spuren Ti02, Fe203, Cr203, F2, R20, K20, Na20, Mn0, P205, SO2
ZUGFESTIGKEIT 3400 - 3700 N/mm²
BRUCHDEHNUNG 3,3 - 4,8 %

Analogie zum Eisenbeton

Beton ist spröd und würde leicht brechen. Die Armierungseisen sind duktil (=dehnbar) und verhindern, dass der Beton bricht. Die Eisen werden ganz unten in der Betonplatte gelegt, wo eine Zugspannung besteht.
E-Modul Beton = 35 GPa

Situation Füllung

Beim Kauen wird die Kaukraft von den Höckern in eine Zugkraft umgelenkt. Beim Knirschen entsteht hingegen eine Scherkraft. Beide wirken vor allem an der Oberfläche. Deshalb muss der Verstärkungsdraht ganz oben in der Füllung platziert werden.
E-Modul Tetric = 11 GPa

Verbund Faser-Matrix

Baustahl hat eine gerippte Oberfläche, die sich sehr gut mit Zement verbindet. Der Verstärkungsdraht ist hingegen glatt. Man könnte ihn anrauhen und mit Monobond beschichten. Die Oberflächenhaftung ist aber unbekannt. Zur Sicherheit gegen hohe Kräfte biege ich ihn wie eine Bostich-Klammer mit zwei Schenkeln und einem parallel zur Kaugrube verlaufenden Rücken.


Rechenmodell

Beobachtungen aus den Misserfolgen

1. Die Frakturen entstehen nicht durch zu hohe Kräfte (keine Gewaltbrüche), sondern wegen der Ermüdung des Komposits durch die Spaltkräfte, die entweder beim Essen infolge von Formfehlern und/oder beim Knirschen entstehen. Sie betragen 10 N (normal) bis 5000 N (sehr selten).

2. Die Frakturen ereignen sich mitten im Komposit. Das bedeutet, dass es mit den Höckern untrennbar verklebt ist (gute Adhäsion), aber dass sein innerer Zusammenhalt zu schwach ist (schwache Kohäsion). Es gilt also, vor allem die Zugkräfte zu beachten.

3. Komposit und Dentin haben fast dieselbe Kohäsion und zeigen ähnliche Brüche. Die kleinsten Haarrisse sind etwa 4 mm lang.

Modell Haarrisse 2
a) Kompositfraktur 5 mm neben dem Draht.
b) Dentinfraktur über einer Karies.
c) Dentinfraktur längs von Amalgam.
d) Dentinfraktur unter belastetem Höcker.

4. Die Haarrisse zeigen auch, wie tief die (ermüdungsbedingten) Spannungsspitzen reichen. Sie sind anfangs nur 1 mm tief.

Modell Haarrisse 1
a) Der Haarriss wird beim Draht gestoppt.
b) Typischer Haarriss neben Amalgam.

Formeln der Zugspannung:

Druck-/Zugspannungσ = F : SMPa, N/mm2
Hookesches Gesetzσ = E ⋅ εMPa, N/mm2
Elast. VerlängerungΔL = F⋅L0/S⋅Emm
Elastische Dehnungε = ΔL : L0%
SD-Diagramm 3
Zugspannung
σ = F : S
ε
←rot: σ = E ⋅ ε
Dehnung ΔL/L0
Beispiel elast. Verlängerung ΔL
F=30 N; L0 = 8 mm
Draht allein: S=0.23 mm2; E=152 GPa
ΔL = 30 ⋅ 8 / (0.23 ⋅ 152000) = 6.86 μm = 0.085%
Komposit allein: S=4 mm2; E=11 GPa
ΔL = 30 ⋅ 8 / (4 ⋅ 11000) = 5.45 μm

Adhäsion und Kohäsion

  1. Adhäsion = Haftkraft des Komposits am Dentin = 25 MPa1) = 25 N/mm2 = 250 bar = 2'500 N/cm2

  2. Kohäsion = E-Modul, Zugfestigkeit, Zugdehnung, Ermüdungsfestigkeit
    Material:  E-Modul
    GPa
    Zugfestigkeit
    MPa
    >0.2% -
    Dehngrenze
    Ermüdungsbruch
    10'000 x MPa
    Tetric®11 2)35-60 4)40-44 2)
    Dentin11-19 3)40-95 3)
    Permachrome®152 5)2000 5)853 5)
    Glasfasern6 6) 2000
Beisskraft
Kräftig
kauen
Adhäsion
Syntac®
Maximales
Knirschen
Zugfestigkeit Permachrome® → 2000 MPa
Zugfestigkeit Dentin
Zugfestigkeit Tetric®

Beachte:
- Amalgam hat keine Adhäsion, weshalb es häufiger Frakturen verursacht als Komposit.
- Nur ganz starke Knirscher überwinden die Kohäsion des Dentins und können Zähne spalten.
- Harte, spröde Materialien haben das E-Modul im GPa-Bereich, weiche elastische im MPa-Bereich.

1) Dentin-Adhäsion, Brandt 2010
1) Tetric EvoCeram, IvoClar 2011
2) Anatomie Dentin, Klimm 2003
3) Komposits, Illie_Kunzelmann_Hickel 2005
4) Werkstoffkunde, Bourauel KFO Bonn
5) Permachrome®, 3M Unitec
6) Permachrome®, 3M Unitec

Beispiel Permachrome® 16/22:
0.2% Dehnung bei 152 GPa ⋅ 0.2% = 304 MPa
304 MPa ⋅ 0.23 mm2 = 70 N
Der Verstärkungsdraht wird bei einer Last von 70 N vollkommen elastisch um 0.2% gedehnt.
1.5% elastische Dehngrenze bei L0 = 8 mm:
ΔL = 8 mm * 1.5% = 0.12 mm
ΔL = F⋅L0/S⋅E   F = ΔL ⋅ S⋅E / L0 = 524 N
Bis zu einer Dehnung von 0.12 mm stellt sich der Draht immer wieder elastisch zurück.
Bruch bei 2000 MPa ⋅ 0.23 mm2 = 460 N
Bruch bei 46 kg Zugkraft oder Beisskraft auf ein Steinchen bei einem 90-Grad-Höckerwinkel.

Modell Molar

69ModellMolar.PNG

blau = Verstärkungsdraht Permachrome® 0.22 x 0.16 ''

grün = Kompositfüllung

Komposit ist etwas brüchiger als Dentin. Die Zugfestigkeit von Komposit ist niedriger als jene von jungem Dentin und entspricht nur derjenigen von gealtertem Dentin. Legt man bei einem Knirscher eine Kompositfüllung über einem Haarriss, so droht auch die Füllung zu zerbrechen. Sie muss deshalb verstärkt werden.


Spannungs-Dehnungs-Diagramm

Die kritischen Kräfte mit Dehnung 0.2%

Spannguns-Dehnungs-Diagramm

Permachrome® (16/22):

Drahtlänge L0: 8 mmE-Modul: 152 GPa
Drahtfläche S: 0.41mm x 0.56mm= 0.23 mm2
Zugfestigkeit σ: 0.23mm2⋅2000 MPa = 460 N (Verformung)
σ bei 0.2%: 0.2% x 152 GPa= 304 MPa
kritische Kraft: 0.23 mm2 · 304 MPa= 70 N

Tetric® (MOD):

Breite L0: 8 mmE-Modul: 11 GPa
Fläche S: 2 mm x 2 mm= 4 mm2
Zugfestigkeit σ:4 mm2 x 50MPa = 200 N(Bruch)
σ bei 0.2%: 0.2% x 11 GPa= 22 MPa
kritische Kraft:4 mm2 · 22 MPa= 88 N

Drahtverstärktes Komposit:

kritische Kraft Prämolar:70 N + 88 N= 158 N
kritische Kraft Molar:70 N + 70 N + 88 N= 228 N

Materialeigenschaften:

(alle Werte
in MPa)
Perma-
chrome
Tetric(Dentin)
Zugfestigkeit σ 200050 (67)
E-Modul 152'00011'000 (15'000)

Dehnung ε = 0.2%

Eine Dehnung von 0.2% gilt als vollständig elastisch und reversibel ohne Verformungen oder Frakturen.

Kritische Kraft

Die kritische Kraft verursacht bei einer bestimmten Anordnung und Grösse des Materials gerade eine Dehnung von 0.2%. Höhere Kräfte sind schädlich.


Verbund Tetric und Permachrome

81Tetric&Permachrome.PNG

Formeln Verbund

d = Draht; k = Komposit
Ed = 152000 MPa; Ek = 11000 MPa
Sd = 0.23 mm2; Sk = 4 mm 2
F = 200 N

1. Hookesches Gesetz bei beiden gültig:
 σd = Ed ⋅ εd    σk = Ek ⋅ εk

2. Draht und Komposit dehnen sich gleich weit:
 εd = εk = σd/Ed = σk/Ek

3. Matrix und Faser wirken der Kraft entgegen:
F = σdSd + σkSk

4. Gleichungen 2 und 3 umformen:
 σk = σd⋅(Ek/Ed)
 σd = (F - σkSk) / Sd

5. σk einsetzen und auflösen:
 σd = (F - σd⋅(Ek/Ed) ⋅ Sk) / Sd
 σdSd + σd⋅(Ek/Ed) ⋅ Sk = F
σd = F / (Sd + (Ek/Ed) ⋅ Sk) = 384 MPa
σk = 27 MPa
εd = εk = 0.25 % (bei F = 200 N)

Copyright © 2024 Icon W. Weilenmann
erstellt: 28.06.2019 - 23.02.2024